Corridos 2021 – Die neue Coolness der regional-mexikanischen Musik aka Regional Mexicano.
Die großen Labels und Streaming-Dienste verbünden sich, um einen neuen Boom in der regional-mexikanischen Musik auszulösen.
Jede Ära hat ihren Soundtrack und es scheint fast so, als wäre die Corona- und Post-Corona-Zeit von regional-mexikanischen Sounds geprägt – besser bekannt als Regional Mexicano, ein Verkaufsgenre, das sich als neue Goldgrube der lateinamerikanischen Musikindustrie entpuppt.
Bei genauer Beobachtung erkennt man, dass sich im vergangenen Jahr sowohl die Streaming-Dienste (Spotify u. a.) als auch die Major-Labels (Universal, Sony, Warner) der Beliebtheit dieser Musik bewusst geworden sind. In Mexiko City sah man zum Beispiel direkt zu Beginn der ersten Corona-Welle spektakuläre Werbebanner von Spotify, die einluden, Künstler wie Christian Nodal zu hören.
Kurz darauf veröffentlichte Banda MS “Que Maldición” ft. Snoop Dogg, eine Kollaboration, die sich mit diesem neuen Stil- und Publikums-Crossover in etwas unglaublich Virales verwandeln sollte. Ende 2020 kam Amazon Music mit einem Doku-Clip über die Geschichte der Corridos heraus, und Spotify begann, seine erste offizielle Playlist für die essenziellen Tracks des Regional Mexicano zu promoten (inklusive Anzeigenkampagne im riesigen Metro-System von Mexiko City).
Als ob diese Spuren nicht wegweisend genug wären, veröffentlichte Francisco Toscano
Anfang des Jahres einen sehr interessanten Artikel für Chartmetric, der belegt, wie die Streaming-Zahlen von angesagten Künstlern wie Cristian Nodal oder Banda MS gleich auf sind wie die von globalen Superstars wie Taylor Swift, Bruno Mars oder Cardi B.
Seitdem sind im Wochenrhythmus neue Kollaborationen mit Künstlern des Regional Mexicano erschienen, die millionenfach geklickt werden. Und es ist offensichtlich, dass die großen Player der mexikanischen Musikindustrie auf die Expansion der unterschiedlichen Stile und Spielarten dieser Kategorie gesetzt haben.
Corridos und die anderen Stile des Regional Mexicano haben schon immer eine große Hörerschaft gehabt. Warum scheint es, als wären sie “cooler” als früher?
Das Dach-Genre Regional Mexicano ist ein breitgefächertes Etikett. Es vereint unterschiedliche Musikstile, die von nordmexikanischer Folklore beeinflusst sind und dem kulturellen Austausch auf beiden Seiten der mexikanisch-amerikanischen Grenze unterliegen. Dieser Kategorie reicht u. a. von Banda Sinaloense, Corridos, Sierreño, über Mariachi und Conjunto Norteño bis zu den Corridos Tumbados und Cumbia.
Seit vielen Jahren werden die verschiedenen Genres des Regional Mexicano im Norden Mexikos und an der Westküste der USA gefeiert. Dabei nährt sich diese Musik vom kulturellen Austausch der Migranten zwischen beiden Ländern. Elijah Wald erwähnt in seinem Artikel für die New York Times, dass die Corridos seit den achtziger Jahren eine wichtige Rolle in der Region spielen und sich seit den Neunzigerjahren stark mit der Kultur des Gangster Rap verflochten haben. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass man auf Instagram Videos findet, in denen Snoop Dog die Songs von Banda MS singt oder zu Liedern wie La Chona (Superhit der Band Los Tucanes de Tijuana) tanzt.
Ein ähnliches Phänomen lässt sich auch mit Blick auf Selena und das musikalische Erbe aus Conjunto Norteño und Tejano-Musik beobachten. Auf beiden Seiten der Grenze war Selena zu Lebzeiten sehr erfolgreich, und globale Stars wie Beyonce nennen sie als große persönliche Inspiration.
Trotz der großen Beliebtheit des Regional Mexicano hat er in den Medien eine eher periphere Rolle gespielt. Wenn wir an die Booms lateinamerikanischer Musik der vergangenen Jahre zurückdenken – ob in den Nullerjahren mit Ricky Martin und “Living la vida loca” oder die kürzliche Explosion von Reggaetón mit “Despacito“ von Luis Fonsi und Daddy Yankee – dann sehen wir, dass diese sich mehr auf lateinamerikanische Identitäten aus der Karibik und die entsprechende Berichterstattung, ausgehend von Miami, fokussiert haben.
In Mexiko City passiert momentan etwas Ähnliches. Das bestätigt auch Uriel Waizel, Chefredakteur bei Spotify. Die Anstrengungen der Industrie, das Regional Mexicano profitabel zu machen, stellen vor allem den “Kitsch” -Faktor oder “rurale” Perspektiven in den Vordergrund. Das hat damit zu tun, dass die Medien aus Mexiko City der Pop- und Rockmusik den Vorrang gewährten – und diese tendierten deutlich zur Anglo- und europäischen Kultur.
Jedoch sehen wir heute, dass die Musikindustrie versucht, Regional Mexicano mit einer Coolness zu positionieren, die man so früher nicht gesehen hat. Dafür gibt es mehrere Gründe, aber in groben Zügen kann man es anhand von zwei Dingen erklären:
Einerseits hängt dies mit der Expansion der digitalen Plattformen in Mexiko und den daraus hervorgehenden Daten über Musikkonsum zusammen. Beim Versuch, das Publikum außerhalb der Großstadtgebiete zu erobern, haben Spotify u. a. gemerkt, wie beliebt die Sounds des Regional Mexicano in der breiten Bevölkerung sind.
Andererseits hat es mit der Erscheinung der Corridos Tumbados zu tun.
Hauptimpulsgeber sind das Label Rancho Humilde und Künstler wie Natanael Cano oder Herencia de Patrones. Corridos Tumbados sind eine musikalische Innovation. Durch Trap-Elemente wird dem Corrido-Universum samt zwölfsaitiger Bassgitarre eine neue Coolness verpasst, die wir sonst nur aus dem Hip Hop kennen.
Reggaetón hat es geschafft, Anglo- und Afro-Lateinamerikanische Musikkulturen überzeugend für die Millenials zu fusionieren. Die Corridos Tumbados tun dasselbe für die Generation Z, die noch zweisprachiger und transnationaler ist.
Welche Strategien verfolgen Labels und Streaming-Dienste, um die Konsumenten des Regional Mexicano für sich zu gewinnen?
Jetzt, wo sich das Regional Mexicano als Goldmiene der mexikanisch-amerikanischen Musikindustrie hervortut, ist es interessant zu beobachten, wie Major-Labels und Streaming-Dienste vorgehen, um sich ihren Teil des Kuchens zu sichern.
Was die Labels betrifft, sehen wir, dass sie ganz auf den Crossover von Publikum und Künstler*innen setzen. Man versucht, das Regional Mexicano an eine urbane Hörerschaft heranzutragen, indem man klassische Acts des Genres mit Künstler*innen aus der eher urbanen Szene kollaborieren lässt. Zwei Beispiele hierfür sind die Banda MS, die sich im Song “Qué Maldición“ mit Snoop Dog zusammengetan hat, oder La Banda Arrolladora mit Mon Laferte in “Se me va quemar el corazón“. Das geschieht aber auch in die entgegengesetzte Richtung, indem urbane Pop-Künstler*innen an das Regional Mexicano herangeführt werden. Diesen Fall können wir bei Künstler*innen wie Karol G in “200 Copas“ und Ozuna & Anuel AA in „Municiones“ beobachten: Es werden typische Corrido-Elemente gesampelt und eingebaut, der Text beinhaltet sogar mexikanische Umgangssprache.
Bei den Streaming-Diensten sieht es fast so aus, als wolle sich jeder einzelne als “offizielle Stimme“ des Regional Mexicano positionieren.
Spotify stützt sich auf seine Editorial-Playlists, die sowohl Musik aus dem Katalog als auch von neuen Künstler*innen zusammenbringen. Zum Beispiel vereint die Playlist „La Reyna“ (dt. „die Königin“) die großen Songs des Regional Mexicano. Hits von klassischen Namen wie Los Tigres Del Norte oder Juan Gabriel werden hier mit Künstler*innen der jüngeren Generation wie Christian Nodal oder Ángela Aguilar kombiniert. Das Gleiche gilt für die Playlist „Corridos Perrones“, in der mit einer ähnlichen Strategie das Corrido-Thema bearbeitet wird und die einen genaueren Blick auf die Innovation der sogenannten Corridos Tumbados wirft.
Außerdem gibt es die Playlist „Novedades Banda, Corridos y Más“, in der verschiedene Stile lateinamerikanischer Musik miteinbezogen werden, die im weitesten Sinne auch Teil dieses „Genres“ sind. Dabei wird mit den Grenzen des Sammelbeckens Regional Mexicano gespielt. Auf diese Weise enthält diese Playlist einerseits Songs, die man durchaus in einer Regional Mexicano Playlist erwartet. Andererseits wird das Feld so erweitert, dass es auch eine internationale Cumbia mit Dembow einer schwedischen Band in diese Liste schafft.
Amazon Music fokussiert eher redaktionelle Projekte, die versuchen, eine gewisse „Authentizität“ des Regional Mexicano zu vermitteln, basierend auf der Professionalität und dem historisch-kulturellen Wert dieser Musikstile. Diese Versuche spiegeln sich in kurzen Doku-Clips wider, welche die Künstler*innen hinter der Kamera begleiten, während sie ihre neuen Hits produzieren – zu sehen im Fall von “Anatomía de un Hit - Banda MS & Snoop Dogg” oder “Album Spotlight - Calibre 50 Vamos Bien”.
Das Publikum kann schon vorab die Studios und die Disziplin der Künstler*innen, die diese brauchen, um ihre Musik zu erschaffen, wertschätzen. Ein herausragender Doku-Clip ist “Genre 101 - Corridos Tumbados ft. Natanael Cano”. Natanael Cano, der Superstar des neuen urbanen Corridos, präsentiert dem Publikum darin den kultur-historischen Hintergrund des mexikanischen Corrido-Genres, ein Pfeiler des Regional Mexicano. Dabei definiert er die Corridos Tumbados als Tochter des mexikanischen Corridos und der amerikanischen Hip-Hop-Kultur der Westküste.
Deezer will ausdrücklich zur „offiziellen Stimme“ des Regional Mexicano und als die Plattform anerkannt werden, die für den Boom des Genres verantwortlich ist, so die Aussage von Ernesto Sánchez, Editorial Music Manager Mexiko & Zentralamerika des Unternehmens, in der neulich erschienenen Business Insider Week. Die Strategie von Deezer ist etwas hybrider als die der Mitstreiter: Eine Mischung aus von Künstler*innen kuratierten Playlists, Podcasts und Streaming-Festivals, außerdem jede Menge Content im eigenen Fernsehformat beim Sender TV Azteca und redaktionelle Artikel auf Drittplattformen.
Ist das Regional Mexicano der neue Reggaetón/Urban Pop?
Wenn man die großen Ambitionen der Musikindustrie für das Regional Mexicano sieht, drängt sich die Frage auf, ob dieses „Genre“ dem Reggaeton die Chart-Gipfel strittig machen wird. Eine Frage, die immer realistischer wird, wenn wir Songs wie “Botella tras Botella“ von Christian Nodal & Gera MX, der sich in weniger als einer Woche auf Platz eins der Spotify Global Charts positioniert hat, sehen. Obwohl das Regional Mexicano die Schlagkraft hat, viele Streams in kurzer Zeit zu generieren, wäre es übereilt, den regional- mexikanischen Musikstilen eine Omnipräsenz à la “Despacito” von Luis Fonsi und Daddy Yankee zuzuschreiben.
Erstens wird es noch ein bisschen dauern, bis das Regional Mexicano ein charakteristisches und hochgradig reproduzierbares Muster hervorbringt, das für alle aktuellen Hits angewendet werden kann. Obwohl schon viele internationale Übernahmen des Regional Mexicano in Form von Corridos Tumbados und weiteren Fusionen aus Bajo Sexto (zwölfsaitigem Bass) und Trap-Swag zu hören sind, merkt man, dass die Veröffentlichungen, die unter diesem Hashtag promotet werden, Inbegriff eines sehr breitgefächerten Musikspektrums sind.
Sie reichen von der Cumbia des Rappers Santa Fe Klan über die Corridos von Natanael Cano bis hin zum Mariachi-Pop von Angela Aguilar.
Zweitens ist das Regional Mexicano nicht die einzige lokale Kategorie, die momentan solch einen Boom genießt. Die Expansion der Streaming-Dienste in Lateinamerika macht das Marktpotenzial von lokalen Stilen mit Trap-Swag sichtbar und belegbar – zum Beispiel im Falle der sogenannten Cumbia 420 von L-Gante aus Argentinien oder des dominikanischen Dembow von El Alpha und Tokischa. Das gilt auch für die arabische und asiatische Welt mit Künstlern wie Breezy oder Divine, die sich ihrerseits mit Baile Funk (anderes Thema!) auseinandersetzen. Das alles lässt vermuten, dass der Nachfolger des Reggaetón nicht einer dieser Stile, sondern vielmehr eine Kombination aus allen sein wird, die sich aus ihren viralsten Elementen zusammensetzt.